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Herrenberg gegen Rassismus

Veröffentlicht am 03.10.2020 in Aktuelles
 

Am 3. Oktober 2020 rief das Bündnis Herrenberg Bleibt Bunt auf zu einer Anti-Rassimus-Kundgebung auf dem herrenberger Marktplatz.

Bodo Phillipsen sprach, stellvertretend für die demokratischen Parteien im herrenberger Stadtrat.

Bodo Philipsen, Redebeitrag zur Veranstaltung auf dem Marktplatz

Ich erinnere mich, wie Anfang der 60er Jahre viele junge Männer mit dunklen Haaren und einer Sprache, die nach Urlaub roch, nach Deutschland kamen. Sie wohnten in Containern in einfachsten Verhältnissen und traten meist als Gruppe auf. Meine Eltern nannten sie „Gastarbeiter“, weil sie nur zum Arbeiten vorübergehend nach Deutschland angeworben worden waren. Dann sollten sie wieder nach Hause gehen. Man brauchte sie aber länger und sie holten Frau und Kinder nach. „Wir riefen Arbeiter, es kamen aber Menschen“, so Max Frisch.

Doch man nannte sie weiter „Gastarbeiter“ und die Politik machte sich keine Gedanken, wie man diese Menschen, die ja wieder gehen würden, integrieren könnte. Im Lauf der Jahrzehnte wurden es immer mehr und sie kamen nicht mehr nur aus Italien. An der Bezeichnung „Gastarbeiter“ änderte sich aber lange, lange nichts.

Noch heute sprechen wir von „fremdenfeindlichen“ Anschlägen. Die Eingewanderten bleiben vielen von uns auch in der dritten Generation weiter fremd. Die Trennlinie besteht weiter fort. Wir hier und die dort. Migranten müssen ihre Existenz in Deutschland immer legitimieren: „Sie hatten hier doch Arbeit und sind nie straffällig geworden“, so eine verzweifelte Mutter eines Getöteten in Hanau. Heute stammen mehr als ein Viertel der Deutschen von Zuwanderern ab. Aber von ihnen ist keiner Bundesminister, keiner Ministerpräsident, keiner im Gemeinderat, nicht mal jeder Zwanzigste in Behörden oder Medien ist ein Zuwanderer. Da ist eine unsichtbare Trennlinie, die Zuwanderern häufig die Führungsposition, die Wohnung oder den Studienplatz verbaut. Wen kann es da wundern, dass die dritte und vierte Generation häufig nur noch von „eurem Land“ redet, wenn sie Deutschland meinen.

Und dann gibt es den offenen Rassismus, bis hinein in Polizei, Verfassungsschutz und Behörden, die eigentlich die Menschenwürde aller schützen sollen. Nach soziologischen Untersuchungen relativ konstant in der deutschen Bevölkerung über Jahrzehnte bei 10 bis 15%. Heute bekennen sich diese wieder offener zu Ihrer Haltung. Die Sprüche von „Kopftuch-Mädchen“, „alimentierten Messermännern“ oder das unsägliche Vogelschiss-Zitat Gaulands sind in deutschen Parlamenten angekommen. Hetze, Ausgrenzung, Hass und Rassismus sind Alltag geworden und ermuntern Einzelne, dies in Taten umzusetzen. Angesichts von 200 Ermordeten durch Rechtsradikale seit 1990, meist zugewanderte Deutsche, ist es mehr als verständlich, dass diese Menschen nun endlich statt tröstender Worte entschlossene Taten vom deutschen Staat fordern.

Keine Frage: Integration ist eine anstrengende Herausforderung – am meisten für die Zugewanderten, aber eben auch für die heimische Bevölkerung. Zugegeben, das gelingt mancherorts besser als anderswo, vor allem dort schlecht, wo sich Ghettos bilden. Kontakt hilft. Wer seine Nachbarn kennenlernt, mit ihnen arbeitet, die Sorgen teilt, lacht und weint, der erkennt, dass uns mit den Zugewanderten mehr eint als trennt.

Immer mehr Menschen erleben ihren Alltag als bedroht: Globalisierung und Digitalisierung verlangen ständig nach Weiterbildung, erfordern ständige Offenheit, Flexibilität und Verdichtung der Arbeit, vor allem viele ländliche Regionen fühlen sich abgehängt, in einer zunehmend heterogeneren Welt werden alte kulturelle Werte in Frage gestellt. Viele erleben die „Welt in Unordnung“. Für rechte Populisten ein gefundenes Fressen. Ich warne: Den Wunsch nach Sicherheit, nach dem souveränen Nationalsaat, kultureller Eindeutigkeit oder verbindlichen Werten, das alles kann man nicht durch Ausgrenzung und Beschimpfung beseitigen, sondern nur durch das Gespräch, die Begegnung und gemeinsames Handeln. Je pluralistischer eine Gesellschaft wird, desto bedeutsamer sind ein gemeinsames Fundament und soziale Bindekräfte. Diese herzustellen durch eine Politik der sozialen Gerechtigkeit und Solidarität ist die eine Aufgabe der Politik. Es ist für Menschen im Osten Deutschlands schwer begreifbar, dass sie nach mehr als 30 Jahren noch immer weniger verdienen und schlimmer: in den Führungsetagen von Unternehmen, Hochschulen, Justiz oder Behörden noch immer kaum vertreten sind.

Die andere ist es aber rechtem Hass und rassistischer Ausgrenzung entschlossen entgegenzutreten, Gewalt und Terror mit allen Mitteln des Staates zu bekämpfen. Viel zu lange wurde der Terror von rechts verniedlicht und relativiert. Unfassbar, dass die Hetze auch aus Kreisen der Sicherheitsbehörden befeuert wurden.

Lasst uns endlich die Trennlinien zwischen zugewanderten Deutschen und Urdeutschen einreißen. Kaum einer von uns ist nicht irgendwann einmal auch zugewandert. Alle Bürgerinnen und Bürger Herrenbergs ohne jeden Unterschied müssen das Gefühl haben, hier in unserer Stadt sicher leben zu können und vor Anfeindungen geschützt zu sein. Wie entsetzlich muss die Angst vor Anschlägen für diejenigen sein, die doch gerade vor Gewalt und Terror in ihrer Heimat geflohen sind. Unsere Solidarität kennt keine Grenzen. So verschieden wir alle sind, so haben wir alle ohne Unterschied doch ein Recht auf Sicherheit.

Freiheit und Demokratie sind für meine Generation eine Selbstverständlichkeit. Doch heute ist beides weltweit bedroht: weniger durch Putsche als durch Wahlen, wie uns die USA, England, Ungarn oder Polen zeigen. Demokratie ist eine Lebensform der Freiheit. Sie zu verteidigen ist deswegen eine ureigene Sache aller Bürgerinnen und Bürge, an jedem Ort und zu jeder Zeit. Was würden die mutigen Freiheitskämpfer in Belarus den Anti-Corona-Demonstranten wohl sagen, die ihre Freiheit schon durch das Tragen einer Maske bedroht sehen?

Was haben wir aus der Geschichte gelernt? Vor allem eines: Heute wissen wir, nach Ausschwitz und Birkenau, wohin Antisemitismus und Rassenhetze führen. „Entscheidet euch, eh es zu spät ist“, so schreibt die Widerstandsgruppe Weiße Rose in einem Flugblatt 1943. 2020 können wir uns gegen heraufziehende Gefahren stemmen, unsere Demokratie verteidigen, Verfolgten Schutz bieten und unsere Zukunft gestalten. Noch ist es nicht zu spät.


 

Bodo Philipsen (Für den Gemeinderat)


 

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